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Jetzt nicht mehr

Ich war so lange nicht mehr bei ihr. Bestimmt ein Jahr, vielleicht waren es längst zwei. Ich dachte, dass ich ihr Blumen bringen müsste. Jemand, dachte ich, müsste doch hinfahren und ihr Blumen bringen.

Vor ein paar Tagen saß ich auf der Bank an der Haltestelle, wartete auf den Bus und dachte nach, was ich noch bräuchte. In meiner Tasche fand ich keinen losen Zettel, so notierte ich die Dinge in den Kalender. Dass ich dabei quer über den 12. März Einkaufsnotizen machte, bemerkte ich erst, als alle Zeilen vollgeschrieben waren mit Butter, Brot, Milch und Drauf. Ich schreibe immer Drauf, wenn ich Wurst meine, ich schreibe nicht Aufschnitt. Ich hatte sie vergessen, schon am Anfang des Jahres. Es war längst Herbst.

Jedes Jahr, gleich zu Anfang, hätte ich den 12. März und den 2. Juli im Kalender angestrichen. Ich hätte Fotos herausgesucht, die, auf denen sie besonders schön aussieht, auf denen sie besonders guckt. Ich hätte ihren Namen hineingetragen und die Jahreszahl. Ich hätte getrocknete Blumen hineingeklebt und Sätze dazugetragen. Sätze, die sie gesagt hatte. Jedes Jahr gleich zu Anfang.

Ich weiß noch, sie wollte keinen Efeu, kein Plaste, kein Kreuz. Sie wollte einen Findling, Rosen (die Wilden), sie wollte eine Kastanie - alt, riesig und ächzend während der Herbststürme. Darunter wollte sie ruhen, irgendwo auf dem Land, nur nicht in der Stadt. Daran dachte ich, als ich über die Landstraße fuhr. Die Herbstsonne hing tief und blendete den Fahrer. Mich blendete sie kaum, ich besetzte einen hinteren Fensterplatz und sah hinaus. Ich dachte, während das Dach des Busses durch dünne Zweige strich, nur hier würden Birkenzweige noch parallel und in der Herbstsonne licht über die Straße hängen.

Früher hätten wir uns getroffen. Am 12. März und am 2. Juli bestimmt. Wir wären zu ihr gefahren oder ans Meer. Wir hätten geraucht und getrunken, hätten ihre Lieder gehört und uns angesehen wie Eingeweihte. Wir hätten uns gefragt: "Warum hat sie das nur gemacht?" und mit den Köpfen geschüttelt. Ich hätte gesagt: "Eine Sekunde später hätte sie es gelassen." Wir hätten so dagestanden und aufs Meer gesehen, ihr hättet noch ein Stück laufen wollen und ich hätte mich auf meinen Mantel gesetzt, hätte auf euch gewartet und dann wären wir wieder nach Hause gefahren mit einem im Tee und ihren Liedern im Ohr, schwindlig von zu hoher Geschwindigkeit, mit der wir über die Landstraßen gejagt wären, an denen die Kreuze gestanden hätten mit Plasteblumen darunter, nah an der Straße in einer Reihe, Steinwürfe voneinander entfernt.

Ich brachte ihr Chrysanthemen, zwei gelbe und drei weiße. Keine Rosen und schon gar keine Wilden - man kann ja nicht alles haben. Ich habe sie ihr hingestellt. Ich sammelte ein paar Kastanien. Einige steckte ich mir in die Tasche, eine legte ich ihr auf den Stein. Früher habe ich ihr auch Kiesel mitgebracht, manchmal auch Briefe.

Damals wäre der Wagen langsamer geworden, wenn wir in meine Straße eingebogen wären. In einer zu kleinen Parklücke hätte er schräg gestanden. Eine von euch hätte die Musik leiser gedreht und gesagt: "Rauchen wir noch eine." Wir hätten noch eine geraucht, ohne etwas zu sagen und dann hätte ich gesagt: "Ich muss dann mal.". Ich hätte euch geküsst und einen Arm um jede von euch geschlungen, eine von euch wäre ausgestiegen und hätte den Sitz zurückgeklappt, und ich wäre hinausgekrochen. Ich wäre zum Haus gegangen, bedeutungsschwer bemüht, mich nicht umzudrehen, am Eingang hätte ich es dann doch getan. Wir hätten uns bitter zu gewunken, mit einem sehr kleinen Lächeln, das dazugehört, und ich wäre hinter der Haustür verschwunden.

Ich ging nicht die großen Wege zurück zum Tor. Ich ging zwischen den Gräbern entlang. Ich las die Namen auf den Steinen und errechnete die Alter der Frauen und Männer. Ich drückte meinen Fuß mit jedem Schritt gleichmäßig stark in die sauber geharkte Erde. Ich schmiss das Papier der Chrysanthemen auf den Haufen vor dem Tor und ging hindurch.

Ich fand ihren Ring, als wir ihre Sachen ordneten. Wenige Tage nach dem 12. März. Sie hatte ihn immer getragen. Er lag im Bad in einer Schale mit anderem Schmuck und ich steckte ihn ein. Jemand wusste, wie man Wohnungen auflöst, wen man anruft, was man kündigt. Ihr gesamtes Leben lösten wir auf. Keine Woche dauerte es. Wir lasen ihre Tagebücher, griffen Lieblingsstücke aus dem Schrank, steckten Kassetten ein, schönes Küchengeschirr. Wir nahmen die Bilder von den Wänden und weißten sie, bauten Möbel ab, verstauten Gardinen, sortierten die Bücher in Kartons. Wir ließen das Wasser und den Strom abstellen, kündigten den Gasanschluss und das Telefon. Manchmal rief jemand an und wir drucksten herum. Am Ende der Woche schrien wir nur noch in den Hörer: "Sie ist nicht mehr da!" Wir aschten Berge von Kippen auf die Aschenbecher. Reste ihrer Habe trugen wir vor die Tür, einiges in Kartons und überließen sie den Vorbeikommenden. Wir setzten uns auf die Stufen vor das Haus und beobachteten die Passanten. Dabei zog ich den Ring aus der Tasche und strich ihn über den Finger. Ich konnte ihre Hand sehen. Für einen Moment sah ich den Ring an ihrer Hand. Ihre Finger, die recht fleischig aus der Handfläche wuchsen und dann spitz nach oben zuliefen, ihre knapp gefeilten Nägel. Als hätte ich ihre Finger gehabt - für einen Moment - deshalb wollte ich ihn immer tragen.

Wenn ich in meiner Wohnung angekommen wäre, hätte ich nur mit Mühe eintreten können. Ich wäre sehr müde gewesen und irritiert, weil ich plötzlich für mich gewesen wäre und aus keiner Box ihre Lieder geklungen hätten.

Ich hätte noch lange hinter der Tür gestanden. Irgendein Geräusch aus dem Hausflur hätte mich schließlich dazu angehalten, in die Küche zu gehen. Ich hätte einfach irgendetwas getan, irgendetwas zwischen Spüle und Kühlschrank, zwischen Essen und Ordnen. Ich wäre einfach aufgetaucht und hätte weiter geatmet.

Ich lief zur Haltestelle und wartete, bis der Bus kam. Es war schon kurz vor fünf und langsam verschwand das Tageslicht. Aus dem Fenster des Busses konnte ich nichts erkennen. Ich weiß, dass sie nie in diesen Bus gestiegen wäre. "Bitte nicht", hätte sie gesagt, "so was fängt man lieber gar nicht erst an." Lieber ging sie zu Fuß oder fuhr mit dem Rad. Regen machte ihr nichts, kein strömender Regen konnte sie nass genug machen. Alles immer schön, in der Hauptsache schön, dachte ich, wie auch immer. Hauptsache kein Bus, nicht so eng mit den anderen.

1, 2 Stunden später hättet ihr geklingelt. Euch wäre es zu Hause so still vorgekommen. Wir hätten einen Film ausgeliehen und Bier geholt. Wir hätten weiter geraucht und getrunken und hätten dabei etwas geschlafen. Der Film wäre nicht so gut gewesen, aber wir hätten ihn zu Ende laufenlassen. Wir hätten überlegt, ob wir noch ausgehen sollten, das wäre offengeblieben und eine von euch wäre tief eingeschlafen, obwohl inzwischen Musik gelaufen wäre - und gar nicht mal so leise.

Gegen 7 war ich zu Hause. Die Wohnung war kühl. Es roch nach Farbe. Ganz leise hörte ich ihre Lieder. Unter dem Tisch – dicht vor der Heizung, zwischen leeren Flaschen – stand noch ein volles Bier, warm, aber voll. Der Ring thronte mahnend auf dem Regal über mir. Ich nahm ihn vom Regal, betrachtete ihn und strich ihn über den Finger. Ich wollte sehen, wie er sich an meiner Hand macht. Er machte sich nicht mehr. Irgendwann, dachte ich, würde er sicher gedankenlos in einer Schachtel verschwinden, während der Adventszeit oder bei einem Frühjahrsputz. Wenn dort kein Platz mehr wäre für so einen Ring, nur für ein Räuchermännchen, Fröbelsterne oder ein Glas frischer, nachwachsender Tulpen.

Viel zu früh wären wir am nächsten Morgen aufgewacht. Vielleicht wäre eine von euch doch noch ausgegangen und hätte uns beim Zurückkommen geweckt. Wir hätten nach den Alben gegriffen und wären wieder auf die Couch gekrochen. Wir hätten uns gefragt: "Was hat sie immer wieder gesagt?" Eine von euch hätte gelacht: "Lakritze hat auch diesen Geschmack, der nicht bleibt." Wir hätten lächelnd in die Alben genickt, Seiten weiter geblättert, auf denen Fotos klebten mit ihr. Fotos, auf denen sie besonders schön aussieht, auf denen sie besonders guckt.

Früher haben wir ihr Briefe geschrieben. Briefe, in denen wir ihr schrieben, wie es uns ging und dass wir an sie dachten. Manchmal wurden wir gefragt: "Denkt ihr immer noch an sie?" und wir nickten und ich sagte: "Natürlich. Natürlich denken wir noch an sie! Wann bitte, denkst du denn, sollte man damit aufhören?" Ich machte eine Pause und schrie hinterher: "Wann denn, bitte?" Damit war das Thema beendet, niemand fragte uns zweimal.

Manchmal gab sie mir das Gefühl, ich würde ihr Umfeld ganz gut dekorieren. Als passe ich zu ihr, die Farbe meiner Augen, meiner Haare passten gut zu der Farbe ihrer Augen, ihrer Haare. Als wären wir nur deshalb zusammen, weil ich sie verhübschte.

Später hätte eine von euch gesagt: "Jünger werden selbst wir nicht." Und weil keine von uns der anderen gerade den Rücken zuwandte, schauten wir lieber ernst, und die andere hätte gesagt: "Nichts ist älter als die Zeitung von gestern." Es wäre Zeit für euch gewesen, zu gehen. Wir wären aufgetaucht aus all den Erinnerungen und hätten uns huschende Küsse gegeben. Eine von euch hätte sie geregnet, nie hätte sie feuchter geküsst, als an einem dieser Morgen. Ich hätte euch stumm und gestenlos aus der Wohnung gescheucht, wie in einen Stall.

Damals haben wir ihre Sachen aufgetragen. Sicher auch die, die sicher nicht verschönten, sicher auch die, die uns tatsächlich verhässlichten. Wir trugen grelle Pullover und mit Leuchtmittel beschichtete Jacken. So erinnerten wir uns an sie, ohne etwas sagen zu müssen.

Ich hätte euch nachgerufen: "Ach, es war doch ganz schön." Ihr hättet zwischen Treppengeländern zu mir hochgelächelt und hättet genickt und wärt immer weiter hinuntergestiegen. Ich hätte die Tür geschlossen und einen Kaffee aufgesetzt. Ich hätte überall gelüftet. Ich hätte sicher die Betten abgezogen und Kontrastprogramm im Fernsehen eingeschaltet. Ich hätte die Alben wieder ganz unten in den Kleiderschrank getan, dort, wo sie einfach verschwanden. Wie in ein besseres Leben hätte ich mich auf die Couch verzogen und sicher hätte ich nicht in der Wohnung geraucht.

Damals haben wir überall geraucht. Wir haben immerzu und überall geraucht. Wir haben getrunken und geraucht, auch aus alten Flaschen, die aus - mit Wasser befüllten - Wischeimern lugten. Sie hätte sicher auch unter der Bettdecke geraucht, wenn sie dort genügend Luft bekommen hätte. Manchmal kamen wir nur, um bei ihr ungestört auf dem Bett zu liegen. Wir lagen dort, hörten ihre Lieder aus dem Rekorder oder sie sang, aschten Berge auf die Aschenbecher und kippten ab und an das Fenster an, das zum Hof ging. Auf den Bäumen sangen Amseln auch im Winter, als sei es längst Frühling. Zwischen dickem Rauch atmeten wir die kurzen, frischen Luftzüge ein. Wir schauten an die Decke und versuchten in den Fasern der Tapete etwas zu erkennen.

(2006)
erschienen in: Risse Nr. sechzehn, Rostock
& in: Transilvania, Literaturzeitschrift (Sibiu/Rumänien)