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Mein Hunger, dein Himmel

Ich war in ein Bäumchen gezogen. Hinein in eine kleine Bude, die der Buntspecht – eben noch: Im Frühling, im Frühling! – geklopft hatte.
Ich weiß noch, ein Wort wollte ich in den Schnee pinkeln, ein Wort von Friede und Freud. Ich wollte so vieles sagen und mich bedanken für den Frieden in Europa und für das kleine Steak zertifizierten Fischs. Ich stand im Türrahmen im Stamm des Bäumchens und war unentschlossen, geh ich hinein oder flieg ich hinaus. Ich schaute hinaus und schauderte: das Winterweiß überall. Der Schnee saß auf meiner Stufe, Eiszapfen tauten mir auf die Fußspitzen, und in den fallenden Tropfen des schmelzenden Eises glitzerte das Licht fein.

Kurz nach meiner Einreise hatte ich dem Specht die Flügel gestohlen, hatte ihm unachtsam mit Messers Schneide ein Herz in die Brust geritzt: ein liederliches Ding, aus dessen Spitze es tropfte.
Nun hörte ich ihn wieder und wieder vor meiner Tür verzweifelt meinen Namen rufen. (Man sagt, er habe den Sommer noch bei mir verlebt, aber davon will ich nichts wissen.) Das Rufen brach nicht ab und ich schielte manchmal vorsichtig durchs Fenster.
Der Buntspecht war auch ohne seine Flügel ein Buntspecht geblieben. Er hatte seine Persönlichkeit wohl einfach an die neue Situation angepasst. Trotzdem tat er mir leid, das Gefühl, gerade ihm Unrecht getan zu haben, missfiel mir. Obwohl ich genau wusste: Auch er hätte mir am Ende der Saison das Herz gebrochen.
Als ich vor lauter schlechtem Gewissen fast keine Luft mehr bekam, öffnete ich die Tür, warf ihm die Flügel hin und wartete ab, was geschehen würde. Er hob sie vorsichtig hoch, versuchte sie – den Kopf wendend - von beiden Seiten zu besehen, was ihm nicht gelang und sah mich hilflos an. Ich griff wieder nach den Flügeln, legte sie geschickt übereinander und schnürte sie ihm mit einem Bademantelgürtel um den Körper. Er schlug die Lider dankbar aufeinander, schenkte mir ein rührendes Lächeln und hangelte sich mithilfe seines Schnabels und seiner kleinen Kletterfüße geschickt auf einen entfernten Ast. Sicher wünschte er sich im Stillen, dass ich ihn dabei nicht beobachtete.
Doch so einfach in seine Freiheitsfliegerrolle zurück konnte er nun auch nicht mehr. Er wusste offensichtlich auch gar nicht, ob er noch länger ein Flügelträger sein wollte. Ja, ja, die Freiheit, dachte ich noch, vermied aber Äußerungen dieser Art, um meine beschränkte Arbeitsberechtigung nicht zu gefährden.
Er schrieb mir einen Brief, in dem standen so viele schöne Worte und Sätze, und in ein Gedicht flocht er eine geheime Liebesbotschaft ein, die ich entschlüsselte: Sie gefiel mir so sehr, dass ich nachts kaum noch schlief. Zentral in dem Brief war aber ein Satz über die Flügel: „Ich wundere mich, dass du diese Flügel gebrauchen konntest, ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, jemals geflogen zu sein.“ Die schönsten Worte des 400 Seiten starken Konvoluts (ähnlich einem folkloristischen Manifest) schnitt ich aus und lehnte sie an Swarovskis Ente Felicia und die Spielenden Fohlen in meiner Glasvitrine. Manchmal goss ich die Worte auch, aber es wuchsen keine Neuen aus ihnen, sie wurden blass und unleserlich, aber ich kannte sie ja.

Meiner neuer Spatz flog mir auf die Hand, er drehte sein Köpfchen und sah sich wohl auch ein wenig um, ob der Buntspecht guckte. Er plusterte sich so herzig auf und schloss seine Augen, fast war mir dann, seine Schnabelspitzen bögen sich zu einem schlummernden Lächeln. Ich strich ihm mit dem Zeigefinger über das gefiederte Köpfchen und ließ meinen Blick schweifen, da sah ich den Buntspecht im Haus gegenüber, er stand reglos am Fenster und starrte mir direkt in die Augen, just in diesem Augenblick aber schaute er fort, erst durch mich hindurch, dann an mir vorbei. Das tat mir weh. Das Hinsehen, das Durchmichhindurchsehen und das Wegsehen.
Ich setzte das schlafende Spätzlein an das Fußende unseres Bettes und warf mich im Nebenzimmer vor den Fernseher. Ich schlief sofort ein, aber das flackernde Licht des TVs, dass ich im Dunkel hinter meinen Lidern wahrnahm, schickte mich auf einen Rundflug über den übrig gebliebenen Streifen meiner Heimat, den ich mit den Buntspecht-Flügeln wenige Wochen vorher in realo gemacht hatte.
Ich erkannte sofort die Krux: flaches, flachstes Land. Man konnte immer alles sehen, auch wenn es nichts zu sehen gab.
Als ich erwachte, saß meine Hülle noch nicht fest und so hatte ich Zeit zum Nachdenken und ich dachte – trotz des gelehrsamen Traums – Heimat! Heimat! Und ich ahnte schon, dass Heimat ein Gefühl, ähnlich dem der Liebe war, welches nicht vorbeizog, das einem nicht über wurde.
Ich schnitt den Buntspecht aus Papier aus, damit ich ihn bei mir haben konnte. Mit den Augen nahm ich es nicht so genau. Ich schnitt ihm keine Flügel an, aber Arme. Arme, mit denen er nach mir greifen konnte, mich festhalten, aber mich wenigstens grüßen. Albern kam ich mir vor, aber mein Spatz schlief noch und so war ich für mich allein, da kann man ja so was mal machen.

Ich erinnere nur daran: Kurz nach meiner Einreise hatte ich dem Buntspecht die Flügel abgehackt und mitgenommen, mir annähen lassen und war über das Land meiner Heimat geflogen. Dem öden Streifen, dem ich jede Regung ansah, weil wir uns so gut kannten, den ich so von innen heraus sah, dass ich ihn schöner fand als schön. Und dabei pulsierte das Blut aus den Flügeln des Buntspechts in meinen Adern, es vermischte sich, deshalb – vielleicht – wurde ich ein Teil von ihm, der Specht ein Teil von mir.

Als ich eine Woche später den Scherenschnitt und die Worte des Buntspechts aus der Glasvitrine meines Herzens in einen Karton sortierte, flammte das Feuer für sein Gefieder, für den schönen roten Tupfen an seinem Nacken und sein gutes Herz noch einmal auf, ich ging zum Fenster und schaute hinüber. Sein Übergangsbau wirkte unbewohnt und die Brüstung des Balkons war voller Taubenkot. Rucke di guck, rucke di guck. Blut ist im Schuck. Ich wurde sehr traurig und vergrub mich in die Arbeit.
(Der Buntspecht hatte seine Anzeige gegen mich zurückgezogen, er könne nicht mehr mit Sicherheit sagen, dass ich ihn – so stand es dort wirklich – von seinen Flügeln erlöst hätte.) Meine Residenzpflicht wurde aufgehoben, ich erhielt eine weitere vorübergehende Aussetzung der Abschiebung, und einen Monat später zogen wir um. Wir zogen in einen dieser modernen kubischen Bauten, aus denen man ebenso gut hinausgucken kann wie hinein. Ich skypte meine Mutter an und zeigte ihr das Nest, in das ich gefallen war, und sie lächelte und nickte und winkte, als verstünde sie mich nicht.
Wir hatten viel Platz und tobten gern über unsere Fliesen, ich schlitterte und mein liebstes Spätzlein flatterte nebenher. Mein kleiner Spatz tschiepte und tschiepte aufgeregt, wenn einer seiner Vogelschar gegen die hohen Fenster zu knallen drohte. Einmal, als es ein Fremder war, quietschten erst er und dann ich, wir sahen uns moralisierend an, aber einer von uns konnte sich die Bemerkung in spätzischem Dialekt nicht verkneifen: „Ich find zwar solche Sachen ekelig, aber für Situationskomik reicht`s immer :-).“
Weil wir eigentlich ganz ok waren, kauften wir uns einen eindimensionalen Wald, mit dem wir die Scheiben beklebten, welcher das Problem aber nicht behob, es nur noch verschlimmerte. Diese kapitalistische Lobpreisung, diese kritische und gleichermaßen kluge Bemerkung (wenn auch ganz anders gemeint (?)), die ich der Tageszeitung entnahm, führte also dazu, dass wir noch anziehender auf die Draußengebliebenen wirkten. Verrückt!?! Also schnitt ich notgedrungen, um weitere Tote und Verletzte zu vermeiden, einen Zaun aus braunem Samt~ und in schwarzem Samtpapier die hagere Silhouette des Don Quijote und seines Schildknappen aus und leimte alles an die Fenster. Das half. Manchmal flog mein Spatz nun auf eine Latte vom Zaun und schaute hinaus auf das Meer, an dessen Horizont kleine Nussschalen schaukelten. „Man wird ganz traurig, wenn man die kleinen überfüllten Boote dort sieht und weiß, was geschehen wird“, sagte er. Ich nahm ihn hinunter und setzte ihn mir auf die Schulter. „Ach mein kleiner Spatz, komm doch, ich koch uns was Schönes!“, sagte ich. Und zauberte so Zufriedenheit ins Gesicht des Spatzen. Ich selbst konnte schon lange nichts mehr essen. Erst hatte ich nichts und nun bekam ich es nicht mehr hinunter. Allerdings hatte ich mein Verhalten auch nicht ausreichend hinterfragt, was mir erst deutlich später auffallen sollte.
Der Winter ging zu Ende, aber ich brauchte den Karton mit den Erinnerungen an den Buntspecht nicht hervorzuholen, denn ich hörte ihn schon wieder trommeln. Leise, ganz leise und nur fern. Ich wusste, bald würde seine neu gezimmerte Höhle fertig sein, das machte mich traurig.

Die Spatzengemeinschaft, in der ich lebte, war mir deutlich zu homogen und ödete mich mehr und mehr an. Ich plusterte mich häufiger auf, dieses Spatzi :-* Spatzi :-* den ganzen Tag, ich konnte nicht mehr. Ich bemerkte, dass ich auf die Brotkrumen auf dem Tisch federnd zuhüpfte.
Oft dachte ich an die alte Heimat, den öden Streifen, der mit dem neuen Heim mithalten konnte, in allen Punkten meiner Anklage.
Ich sehnte mich nach dem armen Buntspecht, der so tapfer sein altes Leben aufrecht erhielt, obwohl seine Flügel ihm unpraktisch auf den Rücken gebunden waren, der mich aufgenommen, mir Wasser gegeben und mir Tang und Sand aus dem Haar gekämmt hatte.
Im Frühjahr schließlich faltete ich den Scherenschnitt vorsichtig zusammen und schob ihn in die Gesäßtaschen meiner 501. Buntspechts Klopfen sauste durch mein Gehör und zog mich an, und ich verließ mein modernes Schloss, und wie zum Trotz winkte ich Don Quijote und seinem Gefolge, während ich mich von ihnen entfernte.
Mühsam kletterte ich am Stamm des Baumes empor, an dem ich das Trommeln am Deutlichsten vernahm, und es fehlte nicht viel, da hätte mich die Kraft verlassen, aber umkehren kam für mich nicht in Frage.
„Ich habe die Bude nicht für dich geklopft“, konstatierte der Specht über mir in der Krone, ohne mich anzusehen, während er das Ungeziefer aus der Borke löste. Ich nickte und gab ihm zu verstehen, dass mir dies nichts ausmachte. Die Tauben auf dem Dach gaben keinen Ton von sich, aber über ihnen auf der Kirchturmspitze quietschte leise das Goldene Kalb im Wind (Nordnordwest), als ich neuerlich über die Schwelle trat.

(2013)
erschienen in: weisz auf schwarz, Literaturzeitschrift, Rostock