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Spitzendige Zweige

Die Straße zum Bahnhof sind meine Schwester und ich immer nur so entlang geschlichen. Wir deckten nie Geheimnisse auf, sahen sie nur an, so genau wie möglich, wir hatten Adleraugen. Wir trotteten wenige Häuser bis zur Kreuzung und bogen dann in die Straße ein, die zum Bahnhof führte. Ebenso wenige Häuser später auf der linken Seite war ein kleiner Platz, den wir Kinder aus dem Viertel nur Dreieck nannten und wir sagten: „Kommst du heute zum Dreieck? Um drei?“ Zwischen drei Straßen standen zwei Linden und darunter zwei Bänke, graugrün verwittert.

Ein paar ältere Jungen standen vor den Bänken, ein Mädchen saß oben auf einer der Lehnen und schaute über die Köpfe der Jungen, wenn sie sprach. Sie sog tief an ihrer Zigarette und pustete den Rauch mit spitzem Mund hinaus. Die Jungen stießen kleine Steine auf kurze Strecken, vergruben ihre Hände in den Hosentaschen und warfen ihre Köpfe in den Nacken, wenn sie etwas riefen. Sie redeten selten, meist riefen sie, brüllten und stießen unsichtbare Bälle in die Luft, nie sehr hoch, aber hoch genug, dass sie einen Schritt machen mussten, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Immer war auch eine Andere dabei, sie stand bei den Jungen, war dick und klein, sah mit hinauf zu dem Mädchen, bot ihr Zigaretten an, schnaubte laut lachend um die Linden, wenn einer der Jungen hinter ihr herlief, um sie zu treten, auch wenn ein Tritt sie erreichte, lachte sie. Sie lachte immer laut, auch wenn sie etwas sagen wollte, lachte sie nur laut, man hörte höchstens ein Ey oder ja oder nein, nie einen ganzen Satz und kaum mal ein Wort, alles ging unter in ihrem Lachen, das sehr laut war.

Auf der anderen Seite der Straße gegenüber des Dreiecks gingen meine Schwester und ich, wir schauten uns an und dann hinüber. Wir blieben stehen, wir sahen lange hinüber und sagten nichts. Wir überquerten eine Straße, die hier mündete, und gingen langsam, dann immer schneller und uns gegenseitig schubsend zum Bahnhof. Selten haben wir etwas gesagt, wenig über die Straße, wenn wir dort herumschlichen und nichts über das, was wir sahen. Wir sagten auch nichts, wenn die Jungen mit der Anderen, die kein Mädchen mehr war, aber auch keine Frau, unter den Büschen hindurchkrochen, sie vor sich her scheuchten in eine Höhle, innerhalb der Sträucher am Rande der Insel.

Innerhalb der Sträucher am Rande der Insel unter denen wir ein anderes Mal weggeworfene Schnapsflaschen einsammelten und in Hosen- und Jackentaschen nach Hause trugen. Meine Schwester verrührte Sand und Beeren, Kiesel, Farbe und Wasser. Sie befüllte die Flaschen, polierte die Schraubverschlüsse und das Glas und bekritzelte es mit erdachten Namen. Sie stellte sie aufgereiht auf ein paar Bretter im Fahrradkeller, die jetzt unsere Bar waren und ich stellte mich daneben und ich sang "Die einsame Stripperin übt st". Meine Schwester kicherte, öffnete ein Fläschchen Sanddornkorn, setzte an, breitete schwungvoll die Arme aus und rief: „Los, noch mal!“ Und ich stellte mich wieder neben die Bar, hielt meine Faust senkrecht unter mein Kinn und sang es von neuem, mit etwas anderem Text, aber die Stripperin übte weiter st. Ich ließ das Lied manchmal dort enden, wo sie ihr Lispeln besiegt hatte und manchmal ließ ich sie unglücklich zurück.

Sie benutzten die Andere und lachten zwischen spitzenendigen Zweigen und die Äste schüttelten sich. Die Andere lachte und rief nur ey oder ja oder nein, manchmal rief sie sehr laut Nein, sie sagte nicht nein, sie rief es laut, wir hörten es deutlich. In den Büschen krachte es, einer der Jungen spähte hinaus, es krachte und die Äste schüttelten sich noch mehr.

Das Mädchen blieb sitzen. Sie sah den anderen nicht hinterher, sie sah in ihre Tasche. Sie suchte minutenlang, zog kramend ein Etui heraus und tuschte sich die Wimpern, bemalte ihren Mund oder sie stocherte mit einem Stöckchen in kleinen Löchern, die in den Brettern der Bank saßen. Sie presste den Filter ihrer Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger und sah sich um, aber nie jemandem nach. Wenn die Jungen wieder zurückkamen, an ihren Reisverschlüssen fingerten, um die Hosen zu schließen, lachte sie ihnen entgegen, und wenn sie wieder vor ihr standen und grinsten, dann lachte sie und sagte: „Ihr müsst ja brutal sein.“

Auf unseren Rückwegen standen die Jungen um die Bänke, das Mädchen saß auf einer der Lehnen. Sie standen und rauchten, sie sahen sich um und durch uns hindurch und einer rempelte gegen die Andere und rief: „Fass mich nicht, du fette Kuh!“, und sie rief ihr ey oder ja oder nein, das in einem Lachen versank.

Meine Schwester und ich, wir sahen hinüber und uns an, sie lachte und schubste mich, nahm Anlauf und sprang mir auf den Rücken und ich schüttelte sie ab und rief: „Nein!“ und verschluckte es in einem mich krümmenden Lachen.

(2006)
erschienen in: Blendwerk drei, Berlin
& in: entwürfe Nr. sechundvierzig, Zürich