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Ein paar Frauen zu sehen
Kurze Sequenzen durchtriebener Erfahrung

Die Frau, die am Tisch sitzt, hoch über einer Stadt im Flirren der Nachmittagssonne, ist kaum älter als fünfzig. Ihr Kostüm ist hell, ihre feinen Strümpfe sind sicher mit Strumpfhaltern am Korselett befestigt und unter ihrem Dutt versteckt sich ein Knotenpolster. Mit einer Gabel sticht sie ein mundgerechtes Stück Sahne-Baiser ab und lächelt, ohne in die Kameralinse zu schauen. Der weite Blick über die Dächer der Stadt sitzt ihr im Rücken.
Am Morgen hat sie sich im Badezimmer das Haar gebürstet. Dann steckt sie es ritualisiert um das Polster mit Nadeln aus Horn fest. Natürlich sind ihr ihre Haare zu dünn. Aber ob es ein Thema für sie ist, dass sie sich verbiegt für eine Vorstellung von sich? Für den Wunsch, einen üppigeren Dutt zu tragen? Sie trägt ein Haarteil im Dutt. Ende der Diskussion. Ende der Offenbarung.
Jeden Morgen bürstet sie ihre Bürste mit einem Kamm aus, jeden Morgen lässt sie das gelöste Büschel Haare über der Brille der Toilette fallen. Dann klappt sie den mit Plüsch überzogenen Deckel wieder herunter. Sie geht in die Küche, in der ihr Ehemann sein Ohr dicht vor den Lautsprecher des Rundfunkapparates hält. Das andere drückt er mit Zeige- und Mittelfinger zu. Sie zündet eine Flamme des Gasherdes an und toastet sich in der Pfanne ein von beiden Seiten mit Butter bestrichenes Brot. Diese Frau nimmt es nicht so genau. Sie ist fein, aber nicht übergenau. Die Butter wird schnell braun, das Brot hat ein paar dunkle Stellen, als sie es aus der Pfanne nimmt, die sie geübt über der Spüle mit dem Buttermesser abschabt.
Vielleicht liegt ein Kind auf der Gästeliege im Arbeitszimmer und erwacht vom leisen Handtieren des alten Paares und dem Geruch des angebrannten Buttertoasts.
Unabhängig aller Vorstellungen von Menschen und ihren Gegenübern, ist das ein Bild tiefer Geborgenheit, welches dieses alte Paar dem Kind mitgab, aber es handelt sich nur um ein Bild. Wenn es davon zehrt, dann weiss es dennoch, dass auch darin Misstrauen angelegt war. Ein Misstrauen politscher Natur.
Das Misstrauen ist ein Graben, an den sich das Enkelkind erinnern kann. Es ist ein tiefer Graben, aber es hätte gedacht, dieser verliefe zwischen oben und unten, nur weiss es damals noch nicht, was das ist, oben und unten. Vielleicht verläuft der Graben auch zwischen Reden und Schweigen. Zwischen dem, was gesagt werden darf und dem, was gesagt werden kann. Was ein Mensch sich zumutet, zu zumuten bereit ist, im Lärm der Dynamiken.

Drei Mädchen, mit Topffrisuren für fünfzig Pfennige, die niedlich aussehen, so niedlich Mädchen nach fünfundvierzig nur aussehen können, mit rutschenden Kniestrümpfen, kurzen Kleidern, Kinderwaden, Seitenscheiteln, Haarspangen, die verhindern, dass der Pony ihnen zu sehr ins Gesicht fällt, Stupsnasen. Später werden sie diese Optik an ihren Kindern zu wiederholen versuchen und sich nichts dabei denken. Ein Kind wird Widerstand leisten, einem wird es gefallen, eines kann sich bis heute nicht entscheiden, was es davon halten soll.
Je älter sie wurden, umso länger trugen die drei Mädchen ihr Haar. Dann kamen der Bob, die Wellen und die Kräuselungen im Zirkel aus Produktionsmechanismen von Schönheit und Reinheit.

Die Frau trägt ihr Korselett, welches sie hält, auch auf dem Beet, das sie umgräbt, unter der Hose, darüber einen dunkelblauen Kittel. Ihre Mädchen sind gross geworden, sie haben Kinder bekommen. Sie haben Berufe ergriffen. Sie lachen und lieben es, Auto zu fahren. Sie besuchen die Frau auf dem Lande und bringen ihre Familien mit. Im Haus gibt es ein Durcheinander, im Garten ist Platz. Sie sitzen am Tisch in der Veranda, lieber im Garten und sie lachen, rauchen, trinken. Nicht immerzu sind sie glücklich. Nicht immer unabhängig die müssen sich natürlich alle die Nasen an den Schaufenstern platt drücken, weil sie ja immer noch glauben, das sei alles für sie, was in den Schaufenstern ist. Ist es natürlich nicht. Das müssen sie lernen.1

Auch die nun schon Fünfundsechzigjährige liebt es, Auto zu fahren. Sie fährt die Landstraße entlang auf dem Weg in ihr Sommerhaus. all die schon tausend Mal erzählten Bilder der tiefhängenden Birkenzweige, die das Dach ihres weissen Ladas streifen Einer der Zwillinge sitzt mit der Hand am Fenstergriff auf dem Beifahrersitz, ein paar andere Enkelkinder auf der Rückbank. Sie hören Cathederal Song und die Sonne steht tief und ein Kind ruft, als sie am Ortsausgangsschild vorbei sind: und jetzt kommt Omis Rennstrecke! Und sie lacht laut auf und tritt aufs Gas, lauter Kurven, Wechsel von Licht und Schatten, Windspiele streifen durch die Kronen der Alleebäume, und dann wird hinter den Wäldern der Blick über die Felder freigegeben.

Der Ehemann, dessen Schmerz ihm geräuschlos auf dem Gesicht brennt, versteckt hinter einem immerwährenden Lächeln. So wandelt der Entfremdete durch das Leben seiner Töchter: Stehend im Stall hinter der schreienden Kreissäge, in den vorderen Reihen auf Kongressen, am Kopfende einer Tafel, zieht Katzenzungen aus einer Schreibtischtür und verschenkt sie an die Kinder.
Die Töchter messen die Distanz aus und die Nähe. Zwischen ihnen und der Frau und ihnen und dem Mann ist mehr Raum als zwischen der Frau und dem Mann. Sie entwerfen die Vorstellungen von Zuneigung und Erwartungen an Liebesbeziehungen in ihrer Zukunft. Fein gestickte Muster, mit denen sie auch die Löcher fehlender Übereinstimmung im Spiegelbild flicken. Am Ende bittet der Mann seine Älteste die Koffer zu packen und weht davon. Die Frauen bleiben ratlos zurück.
Zwei Enkel hüpfen auf ihren Betten, als sie vom tragischen Ende erfahren. Beide vergessen nie wieder den Moment der Heiterkeit, den sein Tod zerrissen hat. Ihre Enkel begleiten die Frau durch die Welt. Sie will viel sehen. Darüber, wovon niemand etwas wusste, dieses Schweigen wird lauter mehr Fragen stellen, Verschlossenheit verstehen möchte - zu spät?2 Ein Enkelkind wird eine Frau und schneidet sich ihre Zöpfe ab. Es hilft nicht.

Ende April schlägt der Frühling sein Lied an blaues Band flattert mächtig über ihre Brüste, süsse wohlbekannte Lüste kreieren ahnungsvoll wenige Momente später, die abklingende Wirkung der Spinalanästhesie lässt Ameisen durch ihre Beine krabbeln und ein Bündel Alien liegt zum Bonding auf ihrem Dekolleté. Wenn das erwachsene Kind sich aufrichten will, schmerzt der Riss in der Bauchdecke. Eine Schwester bringt eine Vase mit frischem Wasser für Blumen und gratuliert: der jungen Mutti zur Geburt des Kindes, die nickt, hält es für Situationskomik. Der Blick über die Stadt vom Fenster der Klinik im vierten Stockwerk liegt vor ihnen: Überall blühen Obstbäume, künden von unerträglicher Schönheit in zartem Rosé.

Ein Wechsel über Ländergrenzen und aus der lieben Mutti wird sMami: Das kann ja nur ein Witz sein!? und ist es dennoch nicht Überraschend anders stellt sich Fortschritt dar. Die neue Frau, das Enkelkind, ummantelt ein Mutterkörper. zieh ihn aus, zieh ihn aus, sonst verrennst du dich Er hängt herum und wird von ihr bestaunt. Mit reichlichem Entsetzen erfährt sie die Normalität der Moderne. Um ihre sexuelle Orientierung glaubwürdig zu machen, hält sie nach wie vor den Codex ein. Sie braucht kein Korselett, strahlend läuft sie ins offene Messer auch, weil ihr ein Lächeln einfach besser steht und räumt auf, sie kocht, unendlich dankbar, Zeit für die Dinge zu haben, die ihr wichtig sind, und nicht am Fliessband zu stehen in Schichtarbeit. Sie wird bezahlen für diese Naivität, während sie über Mündigkeit liest, wird ihre eigene untergehen, in den Aufwallungen der Vernunft. Was werden unsere Enkel einmal von uns und unseren alltäglichen Kompromissen und unserem alltäglichen Scheitern halten?3

Eine Frau allein macht keinen Helvetismus*. Übereinkunft ihres Icherlebens und ihrer biologischen Ausführung ist gewünscht. Kaum unterscheidet sie sich von anderen Menschen. Ihre ihr angedichteten Merkmale und Fähigkeiten sind überall von Nöten und in Not. Sie kann machen, was sie will, sie wird gebraucht und sie macht Gebrauch von sich selbst und dem Bild, welches sie abzugeben glaubt in aller Öffentlichkeit.
- Heimeligkeit, Heimlichkeit, Heiligkeit, Einmaligkeit, Höflichkeit
Erkennen. Du musst dein Herz öffnen!, dieses Organ unter der Brust, in der Mitte unter deinem Brustkorb, das dort körperlich schlägt. Keine hübschen Wangen - schwungvoll im hohen Bogen zu einer scharfen Spitze verschmolzen - ein Körperherz aus Fleisch, aus Blutgefäßen, ein Muskel, der unermüdlich pumpt.
Es wird dir unterstellt, Frau, dass du ein Herz hast.
Oder es wird gesagt, du hättest keins.
Auge um Auge läuft Vanillecreme den Binärbaum hinab und breitet sich aus. Ohne einen grossen Löffel greift jede* hinein und ummantelt ihre Hände mit dem süßen Brei. Fährt sich über das Gesicht, durch das Haar und über kahle Stellen.
aber du würdest ja wirklich
Blumen hängen blühend über die Brüstung eines Balkons
du würdest ja wirklich diese Schönheit beschreiben
jeden einzelnen Moment, den du siehst
Tröpfchen für Tröpfchen, dich hineingeben, eins werden, einweichen, dann vorspülen, durchspülen. Das ganze Leben einmal durchspülen, träumst du.
doch der Moment bricht ab und wird zum Teilprodukt einer Verletzung
und du fragst dich was Kunst überhaupt sein soll
und wie du dich in ihr fortbewegst
und ob du das kannst eindringen
eindringen in etwas
Eindringen in einen Hauptsatz, das tust du ständig, mit Nebensätzen und Einschüben
      Differenz der Systeme
      Einheit der Identität
      Kategorien der Sprache
dein Zweifel birgt Gewissheit für einen unstillbaren Hunger.
Ein Hunger, ein Himmel.
Ein paar Frauen zu sehen, dort hinten am Ende der Straße laufen sie, noch sind ihre Silhouetten gut zu erkennen, markant unterscheiden sie sich in Größe, Form und Stil, vielleicht spielt das Licht eine Rolle, das ungleichmäßig zwischen die Baulücken fällt, vielleicht spielt eine Rolle, ob du dein belonging spürst. Gleichwohl werden sie am Horizont verschwinden, während hinter den Fenstern die Zeit scheut.


1 Thomas Heise zitiert Heiner Müller: revolver-film.com >>>>> >>>
2 Nora Krug, in: Heimat, Kapitel 6, Penguin Verlag 2018 | mehr zum Buch >>>>> >>>
3 Lawrence Weschler über Krugs Buch "Heimat", unter Stimmen >>>>> >>> (03/21)


(2021)
erschienen in: Frauen erfahren Frauen, Verlag Sechsundzwanzig, Zürich