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Garten EbenWÄHREND DU GEHSTRandZelleStammheim Schleife

Garten Eben
Hörspielmanuskript

SCHWESTER Erinnern wir uns. Eben müssen wir beginnen. Eben war doch gerade erst. Eben war doch gerade noch alles gut. Ich weiß noch alles. Ganz genau.
BRUDER Es ist ja auch nicht lange her.
SCHWESTER Wir haben uns fast gar nicht verändert.
BRUDER Du schriebst mir. Du schriebst, von dem, der zu früh liegt bei den Alten.
SCHWESTER Wir lassen uns auf diese Erinnerung ein. Wir holen sie aus dem Gedächtnis heraus. Wir gucken, was noch da ist von dieser Zeit, die gewesen ist. Wir erzählen uns etwas Altes ins Jetzt und wissen nicht, was wir noch wissen. Wir krallen uns an die Sehnsucht nach dem Bruder: Gleich kommt eine Erinnerung!, denken wir.
BRUDER Ich weiß, wir betraten gemeinsam Orte, die zu Orten erst wurden, weil sie jetzt von uns unvergessen sind. Die Stadt, das Dorf, die Landschaft. Alles war dabei. Du, der Bruder und ich - wir waren dort.
SCHWESTER Jetzt haben wir noch etwas vom Bruder. Wir haben ja die Erinnerung. Wir reißen die alte Zeit wieder an uns. Hier: der See, die Idylle! Wenn ich die Augen schließe, weiß ich keinen Unterschied zu irgendeinem früher. Nur, dass es schmerzt.
CHOR Die Erinnerung wird deutlicher. Kippt sie? Und wohin?
SCHWESTER Man kann sie zerreden. Man kann was tun gegen die Haltbarkeit von Nähe, gegen ihre unerwartbare Stabilität. Das engmaschige Netz reißt. Dieses Mutter, Vater, Kind.
BRUDER Wir gingen die Wege zum Findling. Eingemeißelt sein Name. Wir schwiegen die Zeit, die wir dort verbrachten. Wir stiefelten zurück zu unserem Wagen und schwiegen die Zeit, die wir über die Landstraßen eilten. Wir schwiegen über unseren Bruder, den Binnenfischer, der zu früh liegt bei den Alten.
SCHWESTER Man schnappt auf der Straße Fetzen auf. Halbe Sätze, die sich wie von selbst im Kopf vervollständigen. Man dreht sich nicht um, wer das war. Man erinnert den Satz aus. Man hat plötzlich einen Gedanken ausformuliert vorgefunden, der vorempfunden wurde, den man neu empfinden kann.
CHOR Hat sie irgendetwas verdeutlicht? Hat sie unsere Nullstellen im Gedächtnis beleuchtet? Hat sie uns in die Irre geführt? Hat sie nicht von etwas ganz anderem gesprochen?
BRUDER Wir sprachen vom Wetter. Wir standen am Fenster. Wir kamen durch den schönen Ausblick auf das Wetter. Wir sprachen vom Wetter - wie es gerade war, wie es werden sollte - morgen - und wie es war - damals. Als wir Kinder waren, sagten wir, seien die Winter doch weiß gewesen. Wir waren über den See gegangen. Die Zweige hatten tief gehangen, schwer vom Schnee.
CHOR Und? Unter allen Wipfeln war Ruh.
SCHWESTER Welchem Bedeutungsmuster folgen wir? Sind wir bei uns? Sind wir bei dem, was wir uns sagen?
CHOR Wonach es klingt? Worum es geht? Und wohin?
BRUDER Das waren noch Wege. Holpriges Pflaster, gesperrte Wälder. Unsere asozialen Nachbarn, die wir liebten, die Massen an Süßigkeiten hatten, und alle hießen Haribo. Wenn wir losliefen, weil die Feuerglocke geläutet wurde. Wenn einer sagte: ja weißt du denn nicht? Wenn wir in der kleinen Kammer schliefen. Als der Binnenfischer noch mit der Wäscheleine die Pferde einfing. Ohne Sattel ritt.
SCHWESTER Unser Gedächtnis steht mit einem Bein im Jetzt, wenn wir uns erinnern. Wir können eine Erinnerung kommen lassen oder sie herauspressen.
BRUDER Von jetzt aus, von hier oben herab, von weit hinten zurück. Unser lächerlicher kleiner Frieden, den wir hatten. Lächerlich würde ich nur heute sagen. Frieden hab ich auch damals nicht gedacht. Uns fehlte kein Stück. Wir suchten nicht die Draufsicht.
CHOR Diese Leichtberührbaren. Die sollten abschöpfen, bevor das noch überläuft. Das Gedächtnis leerschöpfen. Alles auserinnern.
SCHWESTER Wir können uns Dinge, die sich zugetragen haben, merken. Wir werden aber vom Erinnern sprechen müssen. Wir werden nur Bruchteile benennen können.
BRUDER Weißt du noch, wenn Mutter sagte, wer weiß, wer noch kommt? Wenn sie plante und kochte und backte für wer weiß, wer noch kommt. Und wenn keiner kam, und wir stopften tagelang die immer blasser werdenden Früchtekuchen in uns hinein und gossen die Reste von Saft und Tee zusammen, die fast schon gärten.
CHOR Diese entsetzlich Leichtberührbaren.
SCHWESTER Gestern war vieles, was heute unauffindbar ist.
BRUDER Als unser Vater im Bett lag, sich wand und erklärte. Als wir alles taten, um unberührbar zu sein, standzuhalten. Und Mutter in der amerikanischen Küche Marillen aussortierte.
CHOR Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Beispielhaft! Beispiellos!
BRUDER Kurz vor einem hysterischen Lachanfall. Wir wussten ja nicht, wie wenig wir tun konnten, außer zu lachen.
CHOR Kultur oder Attitüde?
Attitüde! Attitüde!
Kultur! Kultur!
SCHWESTER Wir veredeln das Gestern oder was davon im Gedächtnis zurückgeblieben ist. Wir fahren über das, was noch da ist. Berühren die gute alte Zeit.
BRUDER Wo wir zu Hause waren, trotz klischeehafter Ungemütlichkeiten. Als Heim, in dem wir wussten, wo die Angst saß. Zur Orientierung. Wenn der Vater wieder gestern und heute nicht unterscheiden wollte, den Schmerz aussperrte und Mutter doppelt so viel Geschirr zerschlug.
CHOR Bis zur emotionalen Unkenntlichkeit. Abschöpfen!
SCHWESTER Erst überrollt uns das Jetzt. Es sortiert sich in die Orte im Hirn. Später holen wir heraus, was liegen geblieben ist. Wir wissen dann plötzlich, wo wir standen. Oder wir sagen: Wir wissen es nicht.
BRUDER Als wir - noch zu dritt - im Fremdenzimmer schliefen. Aus dem Fenster heraus in die Krone des Apfelbaums griffen und mit einem Wurf die Katzen verjagten. Und, dass jetzt das Fenster geschlossen bleibt.
CHOR Nichts Verschweigbares.
BRUDER Irgendwann wussten wir, dass wir in unserem Ort nicht mehr punkten können. Wir suchten einen neuen Ort. Zurück wollten wir nicht wollen. Eine neue Herkunft konnten wir nicht suchen. Heimat ist dehnbarer. Heimat war um uns nur die Landschaft.
CHOR Herkunft und Heimat!
SCHWESTER Hier ist nicht unser Ort. Hier ist überall. Überall könnte jetzt hier sein.
BRUDER Als ich auswählen konnte zwischen einem dicken und einem dünnen Besuchertagebuch. Als ich das dünne wählte und niemand fragte, warum das dünne, warum nicht das dicke? Niemand hat geglaubt, dass ich noch viel eintragen werde, noch lange Zeit etwas eintragen werde in das Buch auf seinem Nachttisch am Ende, als er schon an den Schläuchen hing.
CHOR Aber auch gar nichts Verschweigbares.
SCHWESTER Könnten wir über Merktechniken das Gedächtnis immer wieder auffrischen?
BRUDER Wenn wir uns nun in Vollzeitstille wiegen. Uns nur noch gelegentlich erinnern. Nur sprachlos. Dass wir groß geworden sind: zu dritt. Zurückgeblieben: zu zweit.
Fernes Hundegebell, das Rauschen im Kopf durchquert. Wir dadurch die Stille erst bemerken. Einer fehlt. Rein rechnerisch. Und wir Mutter nur noch mit Jaja begegnen. Den Vater lächerlich finden.
CHOR Bedauerungstechnisch oft nur ein Quickie.
BRUDER Er hat auf uns gewartet.
SCHWESTER Vielleicht hat er ja auf uns gewartet. Wir bemühen uns ja um diesen schönen Gedanken. Tage voller Morphium. Seine Augen zeigten alle Symptome von Bewusstlosigkeit. Seine Hände drückten nur reflexartig die unsrigen.
BRUDER Die Wärme, mit der er meine Hand hielt, der ruhige Atem.
SCHWESTER Das hohe Fieber und der aussetzende Atem.
CHOR Über allen Gipfeln ist Ruh; in allen Wipfeln spürest Du die Vögelein schwiegen im Walde.
SCHWESTER Gibt es ein Recht auf Nichterinnerung? Auf Nichtwissenwollen?
CHOR Mit den Fußspitzen berühren sie die Nähe zum Bodensatz in ihnen selbst.
BRUDER Dass wir uns bemühten zuzuhören, aber nur gerade noch hinhörten. Wenn der Vater weinte und klagte. Mutter wieder in den Schüsseln rührte für wer weiß, wer noch kommt. Und alle kamen und kondolierten.
CHOR Warte nur, balde ruhest du auch.
SCHWESTER Wenn die Leichtigkeit flöten geht. Wenn die Normalität sich zurückzieht, über das Wunder des Verlustes handlungsunfähig wird.
BRUDER Wir verließen das Haus früher und häufiger. Wir drückten uns in der Gegend herum. Verweigerten uns der Haltbarkeit von Nähe. Mieden es, mit Mutter oder Vater gesehen zu werden.
CHOR Bis zur emotionalen Unkenntlichkeit.
BRUDER Wir waren lange unter Wasser. Als trieben wir dicht unter der Oberfläche undurchsichtigen Wassers, unfähig zu ertrinken. Ich dachte an das angewinkelte Fenster zum Hof. Ich dachte an die kurzen, frischen Luftzüge, die zu uns hinüber auf das Bett gezogen waren. Ich dachte an ihn, der dicht neben mir eingeschlafen war.
SCHWESTER Man erfindet das Zusammen neu: Vater, Mutter, Kind, die Figuren von gestern. Im Gedächtnis schrumpfen die Fakten. Er starb nicht. Er schlief nur ein.
CHOR Was verschweigbar ist, immer verschweigen!
BRUDER Wir standen am See. Wir warteten auf den Bruder. Wir schauten den Reihern nach. Froren, im Blick den aufsteigenden Nebel. Wir riefen den Bruder. Wir riefen laut nach ihm. Wir riefen den Vater und Mutter. Wir wollten wieder Gestern sein, wir wussten gleich Bescheid. Kein Zweifel damals, aber uns jetzt nur noch vage erinnernd. Selig war ein Tropfen auf heißen Händen, auf Steinen unter Füßen, im Regen unter Hauben nur zu hören. Der See war Fülle, glitt durch Hände, umschloss an Ufern laufende Füße, drang in Ohren, Nasen, Münder. Umschloss Körper.
CHOR Na, das ist Veredlung von Erinnerung!
BRUDER Wir standen am Ufer, vergruben Steine in Taschen, ditschten die flachen über das Wasser, standen kerzengerade auf den mit Hechten befüllten Holzkisten, ließen den Wind in unsere Rücken jagen, der über die Schaumkronen fegte.
CHOR Abschöpfen!!!
SCHWESTER Erinnern wir uns. Eben war doch gerade erst. Eben war doch gerade erst noch alles gut. Ich weiß noch alles. Ganz genau.

(2009)
erschienen in: Tippgemeinschaft - Jahresanthologie der Studierenden des Deutschen Literaturinstituts Leipzig